Untergrundarbeiten

 

So einfach nebenbei, fast von selbst, scheinbar wie fremd gesteuert bewegt sich die Hand mit dem Stift auf der Schreibtischunterlage – sehend, fühlend, energisch, expressiv, abstrakt, launisch, laut und leise; eine bewegte Geisterwelt der Ideen, immer wieder wird von neuem ergänzt, fortgesetzt, weitergezeichnet, weiterentwickelt, werden Farben hinzugefügt. Es ist wie ein Spaziergang durch die Gedanken – immer wieder Buchstaben, der Ursprung meiner Arbeit als Gutenberg-Jünger, Zahlen mit und ohne Bedeutung, ein Sammelsurium von Gegenständen und Fantasieformen dazwischen, Namen, Vorgänge, Skizzen, Buchtitel oder Telefonnummern, Buchnummern – Strich für Strich. Bleistift, Kugelschreiber oder Filzstifte beschleunigen das Wachstum, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr, immer üppiger und rätselhafter wird das Ganze, in über drei Jahrzehnten, mit immer mehr Gebrauchspuren bedeckt, Schnitte vom Papiermesser, Klebespuren, Wasser- und Kaffeekleckse oder auch der Abrieb der feuchten Hände an heißen Tagen ...

Es ist eine Arbeit, die unter meiner Arbeit entstanden ist. Deshalb nenne ich sie ›Untergrundarbeit‹. Gefertigt wurde sie bei Gesprächen, auf der Suche nach Lösungen, Ideen, Abläufen, Ergebnissen. Manchmal waren es auch nur in Eile notierte Namen, Zahlen, Telefonnummern. Eine grafische Ansammlung der bewusst und unbewusst gedachten Momente, Vorgänge und Geschehnisse im Arbeitsalltag. Diese Bilder wuchsen von selbst heran, sind Selbstläufer, fast Psychogramme. Sie entwickelten bald eine Eigendynamik und fesselten mich oder trugen zur Beruhigung bei. Ihre Bedeutung war zunächst für mich eher marginal. Als sich dann aber das Ende des Arbeitsalltags näherte, bekamen diese Aufzeichnungen eine neue Dimension, eine immer größer werdende Bedeutung. Sie kamen an die Oberfläche und wurden von mir intensiv und fühlender betrachtet. Vieles konnte ich da plötzlich entdecken, sehen oder deuten. Erinnerungen kamen ins Bewusstsein oder auch Fragen. Was ist das? Weshalb habe ich das gezeichnet? Mysteriös, unverständlich, verschlüsselt, geisterhaft ...

Das Ganze ist eine umfangreiche Dokumentation der Fakten und Gefühle meines Arbeitsalltags. Freude, Optimismus, Übermut, Trauer, Wut, Verzweiflung, Aggressionen, Unmut, Entspannung, Beruhigung, Frieden wurden hier festgehalten. Auch Privates hat sich hier still eingeschlichen oder einfach eingefügt.
 

 

Jetzt breitet sich das ganze Ausmaß der Untergrund-Kritzeleien aus. Man könnte denken ›die Zeit ist vorbei, es ist so wie es ist, abgeschlossen, gut und beendet, vollendet‹. Doch noch ist kein Ende abzusehen. Nun beginne ich von Zeit zu Zeit in diese Parallelwelt einzutauchen. Dabei sehe ich mir die verschiedenen Aufzeichnungs-Fragmente, teils losgelöst vom Rest, mit anderen Augen an. Es entsteht erneut der Drang und die Lust, daran weiterzuarbeiten, die Arbeit fortzusetzen. Ausschnitte, die ich mir dann am Computer rekonstruiere, zeigen sehr reizvolle neue Bilder und neue Eindrücke. Es bieten sich viele Möglichkeiten an. Die ›Untergrundarbeit‹ wird allerdings nicht fortgesetzt, sondern sie bekommt einen neuen Wert nachdem sie beendet und ›nach oben‹ gefördert ist – ein neues Ziel und ein neues Umfeld. Sie wird nun aufgelöst, vergrößert, mit anderen Materialien behandelt und ergänzt. Ein weiterer Abschnitt hat begonnen, eine erneute Fortsetzung der Arbeit unter anderen Vorzeichen.

 

Auf den folgenden Seiten sind dazu Beispiele abgebildet.

 

Im Online-Magazin ›hundertvierzehn‹ des Fischer Verlages wurden die ›Untergrundarbeiten‹ im Oktober 2014 veröffentlicht.

 

Die Untergrundarbeit 1 befand sich 27. März bis zum 7. Juni 2015 in der außergewöhnlich interessanten Ausstellung ›Skizzen kritzeln‹ des Forum Schlossplatz in Aarau (Schweiz): 

https://backend.forumschlossplatz.ch/media/pages/ausstellungen/skizzen-kritzeln/5d3f09c4cc-1559313977/2015_flyer_skizzen_kritzeln.pdf